„Den Zahlen einen Namen geben. Die Verlegungen von Neinstedter Pfleglingen und Fürsorgezöglingen von 1937-1943“ berichtet erstmals über die Schicksale von 1.019 Personen, die in diesem Zeitraum aus den Neinstedter Einrichtungen in die Zwischenanstalten der NS-„Euthanasie“-Morde verlegt worden sind.
In der mörderischen Ideologie der Nazis bekam die „Ausmerzung lebensunwerten Lebens“ eine unbedingte Priorität. Eugenisches Gedankengut, die vermeintlichen Erkenntnisse der „Vererbungs-Biologie“, die „Aussonderung der Minderwertigen“ und die damit bezweckte „Gesundung des Volkskörpers“ begannen im Deutschen Reich mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ ab Januar 1934 zur alltäglichen Realität zu werden. Auch in den Neinstedter Anstalten sind hunderte von Frauen und Männern gegen ihren Willen zwangssterilisiert worden. Als letzte Konsequenz dieses menschenverachtenden Denkens einer „Aussonderung der Erbungesunden“ wurden ab Herbst 1939 im Deutschen Reich die Morde an beeinträchtigten Menschen angeordnet und durchgeführt, in der Sprache der Täter beschönigend „Euthanasie“ genannt. Auch Menschen in besonderen Lebenslagen oder mit „sozialen Auffälligkeiten“, die sich nicht in die von den Nazis verordnete „Volksgemeinschaft“ einfügen ließen, wurden in die „Zwischenanstalten“ des Mordprogramms verlegt. Etliche sind schon dort umgekommen oder sie wurden in einer der Mordanstalten dieser „Aktion“, wie etwa in Bernburg, umgebracht.
Die Untaten und Morde an den Pfleglingen der Neinstedter Elisabethstiftung und den Fürsorgezöglingen des Lindenhofs stellten in der NS-Zeit kein einzigartiges Phänomen dar, sondern sie waren Bestandteil einer verbrecherischen Ideologie und gleichzeitig ein mit bürokratischer Energie verübter Massenmord. Die Freveltaten waren in Neinstedt ab 1941 direkt verknüpft mit der unheilbringenden Entwicklung des vom NS-Regime ausgelösten Kriegsgeschehens. Hinzu kam, dass die schrecklichen Untaten der NS-Mörder zur „Erhaltung der Volksgesundheit“ stets auch noch mit einem ökonomischen Nützlichkeitsdenken verbunden waren, das auch unter den verantwortlichen Theologen innerhalb der damaligen Diakonie zur Normalität gehörte und ab Juni 1941 mit den „Kriegsnotwendigkeiten“ begründet wurde. Denn die Verlegung und Ermordung der Neinstedter Bewohner war eng mit den NS-Kriegszielplanungen verbunden. Mit Beginn des „Russland-Krieges“ dienten die von ihren Bewohnern „freigemachten“ Gebäude ab Juni 1941 umgehend dem Wehrmachts-Lazarettbetrieb.
In den Neinstedter Anstalten regte sich gegen die von der „Aktion T4“ aus Berlin angeordneten „Verlegungen“ bis auf wenige, oft nicht erfolgreiche Versuche kaum ein Widerstand. Um sich heutzutage damit auseinanderzusetzen, werden in der Veröffentlichung die Biografien einiger der damaligen Mitarbeitenden genannt. Ebenso waren die Täterinnen und Täter der „Euthanasie“-Verbrechen keine namen- oder gesichtslosen Individuen. Unter ihnen waren einige Professoren der Medizin, doch auch junge Ärzte waren darin verstrickt, die, von der NS-Ideologie verblendet, ohne jegliche Skrupel bedenkenlos mordeten, oder weil sie sich durch den Massenmord an behinderten Menschen einen Karrieresprung und ein rasches persönliches Vorwärtskommen erhofften. Gleiches galt für das pflegerische und technische Personal in den Mord- und in den Zwischenanstalten. Doch gab es unter ihnen auch abkommandierte SS-Männer, ebenso wie dienstverpflichtete Krankenschwestern oder die Stenotypistinnen, die die Mordaktionen bürokratisch zu verwalten hatten.
Bis auf den heutigen Tag ist es unsere gemeinsame Verpflichtung im Sinn eines diakonischen Auftrags, den damals aus einem „Werk der christlichen Liebestätigkeit“ Verstoßenen und damit ihren Peinigern Ausgelieferten mit den beschränkten Möglichkeiten einer Forschungsarbeit wenigstens ihre Namen und ihre Schicksale zurückzugeben. Jeder der 1.019 aus Neinstedt fortgeschafften Menschen hatte einen Namen und damit verbunden eine ganz persönliche Biografie, keiner dieser gut eintausend Bewohnerinnen und Bewohner war nur eine nüchterne Zahl auf der entsprechenden Verlegungsliste. Ihnen ist das aktuelle Buch gewidmet, denn ihren Namen gilt es zu gedenken.
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